Christus im Alten Testament: Die Gottesknechtslieder bei Jesaja – Teil V

1. Jesaja 61,1-3 gehört nicht zu den klassischen Gottesknechtsliedern.

Text des Tages: Jes 61, 1-3                 Fortlaufende Bibellese: Jes 63, 7-14

Dieser Text ist in gewisser Hinsicht ein „Wackelkandidat“.

  • Die einen rechnen ihn dazu – die anderen nicht.
  • Das Wort „Knecht“ kommt in ihm nicht vor.
  • Das trifft aber genauso für das dritten Gottesknechtslied zu.
  • Der „Knecht“ ist hier wie dort indirekt in dem Komplementärbegriff יְהוֶה אֲדוֹנׇי = adonaj JHWH (Vers 1) enthalten.
  • Wer diesen Gottesnamen gebraucht, drückt damit seine Unterordnung, seine Zugehörigkeit und sein Vertrauen zu Gott aus, wie es für einen Knecht typisch ist.

Es spricht vieles dafür, dass Jesaja 61,1-3 ein weiteres Gottesknechtslied ist.

  • Das Besondere ist, dass in ihm auch der messianische Klang von Jesaja 7-11 zu hören ist.
  • Am Ende des Prophetenbuches kommen die Gottesknechtslinie und die messianische Linie gewissermaßen zusammen.
  • Die liberale Theologie kommt hier allerdings zu einem anderen Ergebnis, weil sie das Jesajabuch in drei unabhängig entstandene Prophetenbücher aufteilt.
  • Sie sieht in unserem Text kein Gottesknechtslied, sondern die Prophetenberufung des sogenannten Trito-Jesaja.
  • Zu solch einer Konstruktion kann man nur kommen, wenn man Zweifel an echter Prophetie wie an Vorhersagen weit über die eigene Lebenszeit hinaus hat.

In der prophetischen Literatur sind „Kunstnamen“ völlig unüblich.

  • Im Unterschied zu den Geschichtsbüchern haben Propheten durch-weg ihre Identität offengelegt (ähnlich die Briefschreiber im NT).
  • Das Buch Jesaja ist durch die Überschrift eindeutig mit dem Propheten Jesaja aus Jerusalem im 8. Jhd. v.Chr. verbunden.
  • Sprach- und Stilunterschiede sind nicht festzustellen, dafür aber durchgehende Linien durch das ganze Buch.
  • Begriffe wie Schuld, trösten, Herrlichkeit Jahwes, Gerechtigkeit, der Heilige Israels, Zion / Jerusalem ziehen sich durch das ganze Buch.
  • Sirach schreibt um 200 v.Chr.: „Im Geist schaute er, was am Ende geschehen sollte, und tröstete die Trauernden in Zion“ (48,24).