3. Gottes Bild schauen. 

Text des Tages: Hi 42,1-6             Fortlaufende Bibellese: Hi 42,10-17

Eine zweite wichtige Einsicht liegt für mich hier, liebe Schwestern und Brüder: „Ich erkenne, dass du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer. […] Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen“.

Johannes von Damaskus, der im 7. und 8. Jahrhundert nach Christus lebte, sagte einmal: „Ich sah die menschliche Gestalt Gottes und heil wurde meine Seele“.[1] Johannes von Damaskus sprach davon, Gott menschlich gesehen zu haben. Er meinte damit Bilder, auf denen Jesus dargestellt ist. Johannes sprach über christliche Kunst, über Ikonen, die in den orthodoxen Kirchen üblich sind. Ihm ging es dabei nicht um einen bestimmten Kunststil, ob diese Bilder aussehen müssen wie russische Ikonen oder wie die Malerei der Alten Meister oder wie moderne Gemälde oder wie hier die Apsis mit dem großartigen Gemälde von der Auferstehung. Der Stil ist nicht die Frage. Dem Johannes ging es darum, ob diese Bilder Gott zu erkennen geben. Solche Bilder sind keine Fotos. Sie sind Fenster zum Himmel.

Aber ich gehe noch einmal einen Schritt zurück. Können wir Gott überhaupt sehen? Wohnt er, „der allein Unsterblichkeit hat“, nicht „in einem Licht, in das keiner hinzukommen kann“? (1Tim 6,16)? Wie sollten wir ihn dann sehen können? Oder Jesus Christus? Oder wie sollten wir bestimmte Ereignisse der Heilsgeschichte sehen können, die längst vergangen sind, wie die Geburt Jesu? Sehen wir nicht vielmehr nur ein Bild und zwar ein Bild dessen, was sich der Künstler vorgestellt hat und wie es der Künstler bzw. die Künstlerin ausgemalt, geschnitzt, gehämmert, plastisch geformt hat?

Hiob hatte kein Kunstwerk vor Augen. Hiob hat nichts gesehen. Er hat Gottes Stimme vernommen – wie immer man sich das praktisch vorzustellen hat. Gott zu hören kann sehr verschieden aussehen. Hiob hörte Gott. Gott hat ihn getroffen. Und Hiob nennt das: „nun hat mein Auge dich gesehen“.

Johannes von Damaskus ging es darum, dass Bilder Gott zu erkennen geben. Nicht jedes Bild kann das. Der Mensch sieht immer, was vor Augen ist (1Sam 16,7). Aber in manchen Bildern sieht man mehr als nur das Augenscheinliche. Hören und Sehen scheinen bei Hiob einen Widerspruch zu bedeuten: „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen“. Doch beides gehört sehr zusammen, auch bei Hiob. Im Hören schwingt das Sehen mit. „Höre Israel“ heißt es im 5. Buch Mose (6,4f). Das „bedeutet auch: Öffne deine Augen und schaue, vernimmt die Gegenwart Gottes, d.h. tritt in Gemeinschaft mit ihm von Angesicht zu Angesicht. Diese Verbindung von Schauen und Erfahren, Hören und Sehen tritt deutlich in der Seligpreisung auf: ,Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen‘ (Mt 5,8).“[2]

Ob ich in einem Bildnis wie durch ein Fenster in den Himmel schauen kann, hängt also nicht nur von dem Kunstwerk ab, sondern auch von mir selbst. Kann ich Gott erkennen? Johannes von Damaskus war überzeugt, dass das möglich ist. Es braucht aber das Sehvermögen dazu. Für orthodoxe Christen ist das Anschauen eines christlichen Kunstwerkes mit dem vergleichbar, was wir vom Bibellesen halten: Lesen und anschauen bedeutet noch lange nicht verstehen und durchschauen. Um durch Bibeltexte und durch Bilder hindurch in die Wirklichkeit Gottes schauen zu können, braucht es offene Augen des Herzens, etwas mehr als nur die Funktion des Verstandes.[3] Ja, es geht unter bestimmten Umständen auch ohne den Verstand. Deshalb sehen wir zum Beispiel geistig Behinderte als gleichwertig an, auch Demenzkranke oder kleine Kinder oder Menschen, denen bestimmte Bildungsvoraussetzungen fehlen. Sie können genauso (vielleicht sogar noch besser) Gott erkennen, wie Menschen auf dem Höhepunkt ihrer Verstandeskraft.Augen des Herzens sehen mehr als den nackten Buchstaben oder die bloßen Formen des Kunstwerkes. Manchmal muss Gott sie öffnen.

Wenn wir nun, liebe Schwestern und Brüder, in den Weihnachten an der Krippe stehen oder den Christbaum sehen oder die Hirten, die auf der Pyramide zum Jesuskind eilen, dann braucht es etwas mehr als Kerzenschein und Tannenduft. Die Augen des Herzens müssen offen sein, um zu sehen, was für mich und für uns geschehen ist.

Johannes von Damaskus ging davon aus, dass Bilder – dazu gehören nicht nur Gemälde, sondern auch Weihnachtskrippen u.ä. – heilsam wirken können. „Ich sah die menschliche Gestalt Gottes und heil wurde meine Seele“ Wie kommt er eigentlich darauf? Bildnisse, auf denen Jesus dargestellt ist oder welche Geschichten zeigen, die Menschen mit ihm erlebt haben, malen vor Augen, dass Gott einer von uns geworden ist. Dann sehen wir Gottes menschliche Gestalt. Sie ist heilsam, denn sie führt uns aus finsteren Nächten in ein Leben, das kein Ende kennt. Wenn wir sie anschauen, können wir sogar ein Leuchten erleben: Gottes Klarheit über unserem Leben.

„Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, / kann unsre Nacht nicht traurig sein! / Er sieht dein Leben unverhüllt, / zeigt dir zugleich dein neues Bild.“


[1] „Humanam Dei formam aspexi, et salva facta est anima mea / Εἷδον εἶδος θεοῦ τὸ ἀνθρώπινον, καὶ ἐσώθη μου ἡ ψθχή“, Ioannes Damascenus, De imaginibus oratio I, 22 (MPG 94, 1255/1256).

[2] Kallis, Anastasios, Brennender, nicht verbrennender Dornbusch. Reflexionen orthodoxer Theologie, hg. von Ines und Ursula Kallis, Münster 1999, 163.

[3] Der Betrachtung der Ikone liegt dasselbe Prinzip wie der apostatischen Theologie zugrunde, die davon ausgeht, dass Gott jenseits jeglicher rationalen Erkenntnis liegt, insofern das Abgebildete jenseits des Geschauten wahrgenommen wird.!, Kallis, Anastasios, Mit dem Herzen sehen. Die Begegnung mit dem Heil in den Ikonen (Orthodoxe Perspektiven 12), Münster 2016, 15.