2. Worte ohne Verstand.

Text des Tages: Hi 42,1-6       Fortlaufende Bibellese: Hi 42,1-9

Liebe Schwestern und Brüder, Hiob hatte Gott angeschrieen, weil er nicht verstehen konnte, was ihm geschah und warum er so schlimmes Leid erleben musste. Gott antwortet darauf und Gott kritisiert nicht das Schreien. Gott kritisiert nicht, dass Hiob in tiefster Nacht fragte: ,Wo bist du, mein Gott?” Gottes Antwort in der Hioberzählung kritisiert nur „Worte ohne Verstand“ — Worte, die meinen verstehen zu können, und doch nichts begreifen.

Bei der Frage nach dem Warum gibt es nichts zu verstehen. Auf die Frage nach dem Warum gibt es keine Antwort. Es gibt keine Antwort, warum ein Freund in jungen Jahren stirbt. Es gibt auch keine Antwort für die Mütter in Bethlehem, deren neugeborene Jungs durch Herodes unschuldig ermordet worden waren (Mt 2,16–18). Es gibt keine Antwort, warum Menschen zur falschen Zeit am falschen Ort neben einer Synagoge erschossen werden oder in einer Kirche in Ägypten oder auf dem Weihnachtsmarkt zusammengeschlagen.

Es gibt aber eine Erfahrung Gottes, die über das normale Hören und Sehen hinausgeht. Hiob hat Gott persönlich erfahren. Hiob hörte Gott. Gott hat ihn getroffen. Und Hiob nennt das: „nun hat mein Auge dich gesehen“.

Hiob war genau wie seine drei Freunde und wie viele seiner Zeitgenossen einem Missverständnis aufgesessen. Sie meinten zu erklären zu können, warum was wie passiert ist; dass es eine Regel gäbe, nach der Gott handelt. Hiob ging von dem selben Prinzip wie seine Freunde aus: Er dachte, Gott würde eins zu eins vergelten und sein Handeln entspräche unserem Handeln: Verhalten wir uns redlich, sind wir ihm treu, bekennen wir ihn, würde er Gesundheit, Wohlstand schenken usw. Umgekehrt strafte Gott, wenn wir uns von ihm abwendeten.

Das ist rabenschwarze Weihnachtsmannpädagogik. In Theodor Storms Gedicht „Knecht Ruprecht“ schaut „droben aus dem Himmelstor“ „mit großen Augen das Christkind hervor“. Es fragt den Knecht Ruprecht: »Hast denn die Rute auch bei dir?« / Ich sprach: »Die Rute, die ist hier; / Doch für die Kinder nur, die schlechten, / Die trifft sie auf den Teil, den rechten.« / Christkindlein sprach: »So ist es recht; / So geh mit Gott, mein treuer Knecht!«[1]

Die Rute für die Bösen, Geschenke für die Guten – das alles sind keine alten jüdischen Gedanken, sondern offenbar zutiefst menschliche Wünsche. Leider gibt es noch heute christliche Gemeinden und Prediger, die so etwas verkündigen. Aber Gott straft nicht, zumindest nicht auf diese Weise.

 „Darum hab ich ohne Einsicht geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe.“ Fromme Protestanten haben diese Geschichte so gedeutet: „Bisher war Hiob Gott so fern, daß er über ihn lediglich eine mündliche Kunde durch andere besaß“.[2] Liebe Schwestern und Brüder, das würde ich einem frommen Juden allerdings nicht unterstellen. Wer bis ins letzte Gott bekennt und unerschütterlich wie Hiob daran festhält: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“, der kann nicht fern von Gott sein. Eine solche Unterstellung ist eine reine Frechheit.

Hiob hat Gott erlebt als den, der nicht zu durchschauen ist; als den, bei dem Leid keine Strafe ist; der mein Leben trotzdem in der Hand hat. Hiob erkannte, dass er als Mensch nichts erklären kann, weder in seinem Leben noch im Blick auf das Leben der Anderen. Das ist für mich die erste und wichtigste Einsicht aus der Hioberzählung.

„Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, / kann unsre Nacht nicht traurig sein! / Bist du der eignen Rätsel müd? / Er kommt, der alles kennt und sieht.“


[1] https://gutenberg.spiegel.de/buch/gedichte-9487/183.

[2] Fohrer, Georg, Das Buch Hiob (Kommentar zum AT 16), Berlin 1988, 534.