2. Diese Insel ist überall, wo Christus ist.

Text des Tages: 2. Kor 1,3-7             Fortlaufende Bibellese: Hi 22

Wir könnten fragen: wozu, weshalb, warum? Was hat Passion und Ostern eigentlich mit uns zu tun, liebe Schwestern und Brüder?
Eine landläufige Antwort darauf dürfte lauten: Weil wir in diesen Wochen und mit den kommenden Festtagen an Jesus denken. Weil wir daran denken, dass er gelitten hat, gestorben ist und auferweckt wurde, wie uns das die Schriften des Neuen Testaments in der Bibel überliefern. Das ist typisch für unsere Denkgewohnheiten: an etwas Vergangenes zu denken – der Fall Jesus, ein Kapitel der Vergangenheit von vor etwa 2000 Jahren. 

Aber, liebe Schwestern und Brüder, wir denken nicht nur daran. Wir feiern es. Es war nicht nur gewesen (kein „Es war einmal“). Es ist auch heute. „Denn“, so Paulus, „wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus.“ Passion ist heute und Ostern ist heute.
Das neugeborene Kind im Luftschutzbunker; Waisenkinder, die im Bus nach Bielefeld unterwegs sind, aber nicht ankommen; Menschen, die in Straflager festgesetzt und gequält werden; Soldaten, die sterben, und Fa- milien, die trauern; Menschen, die Krebs haben und keine Besserung finden; Kinder, die missbraucht, vergewaltigt, verkauft, ausgeschlachtet werden: Passion ist heute.

Mit jedem Kind im Keller wird Jesus von Neuem im Stall geboren. Mit jedem Mord an Leib oder Seele wird Jesus erneut gekreuzigt. Die Liste ließe sich fortsetzen, nicht allein mittels der dramatischen Beispiele, die uns derzeit durch den Krieg gegen die Ukraine vor Augen stehen, sondern mit allen Leiden, die Menschen erleben können. Passion ist heute und Ostern ist heute. 

Aber, ist dies nur ein Ideal, dass wir sagen, diese Menschen seien wie Jesus, diese Leiden seien wie die Leiden Christi? Sozusagen nur ein „Wie“, nur Parallelen, Ähnlichkeiten, bloß Vergleichbares? Wäre es nur ein Vergleich, liebe Schwestern und Brüder, würden wir diese Menschen, würden wir alle Menschen dadurch entwürdigen. Die Leiden dieser Zeit sind nicht nur ein Bild für Christus, keineswegs bloß ein Exempel für den Einzigen. So ist es nicht. Es ist vielmehr umgekehrt: Er hat gelitten, was wir leiden. Er leidet das, was Menschen leiden. Er leidet heute, wo Menschen leiden. Jesus Christus leidet in jedem Keller, mit jeder Wunde, bei jedem Missbrauch.
Jesus Christus ist kein apathischer Gott, leidensfrei oder leidensunfähig, enthoben in paradiesische Sphären. Er ist auch kein sympathischer Gott, der nur mitleidet, sozusagen daneben steht und zuschaut, betroffen, mit- leidig, aber eben nur daneben. Gott steht selber im Leiden mittendrin. Durch Jesus ist unser Leiden sein Leiden

Der Vater Jesu Christi, „der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes“, wie Paulus sagt, ist kein sympathischer Gott. Er ist nicht bloß mitleidend. Wir merken es ja nicht einmal, wie er leidet. Er ist verborgen. Er ist der Gott der Passion und des Leidens selbst. Wo Leid ist, da ist der Gott. Wo Gott ist, da ist aber auch sein Leben. 

Dass Jesus gelitten hat, gestorben ist und auferweckt wurde, wie uns das die Schriften des Neuen Testaments überliefern, bleibt nicht nur ein Fall der Geschichte von vor ungefähr 2000 Jahren. Es ist heute greifbar. Deshalb denken wir nicht bloß daran, sondern wir feiern es in der Passionszeit, wie heute als Gottesdienst zu Lätare und dann erst recht zu Ostern. Wenn wir sein Leiden und Leben feiern, ist Gott anwesend. Dann finden wir einen sicheren Boden in den Passionen unserer Zeit.